Toblacher Thesen 1988

"BAUEN MIT DER NATUR- BAUEN IN DER KULTUR"

These 1

Der Aufbau des Industriesystems hat seine ökologischen Grenzen erreicht. Der jetzt erforderliche Umbau bedeutet eine qualitative Verbesserung des Bestehenden durch die gezielte Kombination von teilweisem Ausbau und Abbau. Es geht um die Revitalisierung unserer Lebensräume. Dies kann nur geschehen, aufgrund neuer Werte und Prioritäten. Damit werden neue Perspektiven eröffnet.

These 2

Kultivieren und Bauen kann heute nicht mehr heißen, immer neues Land zu erschließen, es immer mehr zu bebauen und zu überbauen, es immer intensiver zu bewirtschaften. Die Grenzen sind erreicht. Nur noch im Gebauten kann Bauen stattfinden. Bauen kann heute nur heißen, die verbaute Umwelt mit Rücksicht auf Mensch und Natur umzunutzen und umzubauen.

These 3

Bauen kann zur Umweltzerstörung beitragen. Wir müssen neue Konzepte für ein gesundheitsbewußtes, umweltverträgliches und sozial- und kulturgerechtes Bauen entwickeln. Die Kenntnis davon soll Allgemeingut werden, auch durch Aufklärungs- und Erziehungsmaßnahmen. Bauen ist immer Gestaltung der Zukunft.

These 4

Wohnqualität ist ein wesentlicher Teil der Lebensqualität. Das Bauen und Planen sollte berücksichtigen, daß schädliche Einflüsse durch Baumaterial und Einrichtungen vermieden werden. Neben den Forderungen wie optimale Belichtung und Belüftung müssen die gesundheitlichen Auswirkungen von giftigen Baustoffen, energetischen Feldern und Strahlungen sowie Raumklima beachtet werden. Standort und Wohnumfeld müssen ebenfalls allen Gesundheitsaspekten genügen.

These 5

Ziel des ökologischen Bauens und Siedelns ist die Harmonisierung menschlichen Lebens mit der Natur. Haushaltungen, Ver- und Entsorgungssysteme gilt es, schadlos in den Naturhaushalt zu integrieren. Hierzu gehören Energieversorgung, Wasserversorgung, Abwasserentsorgung, Müllrecycling, Güter und Materialien aller Art. Das Haus sollte das unmittelbare Naturpotential des Standortes nutzen und keinesfalls belasten.

These 6

Die Aufsplitterung von Städten und Siedlungen in monofunktionale Bereiche, für Wohnen, Arbeiten, Konsum, Kultur und Erholung erzeugt einen zunehmenden Transportbedarf und zerreißt die Lebenszusammenhänge. Zu fordern ist dagegen eine verträgliche Durchmischung der Funktionen, um damit die Lebensqualität in allen Bereichen zu erhöhen und den Bedarf an Verteilung und Mobilität abzubauen. Der Autoverkehr muß reduziert werden.

These 7

Die gebaute Umwelt soll Teil des umgebenden Ökosystems werden. Das heißt, sich weitgehend in die natürlichen Kreisläufe und Energieflüsse intakter Biotope einfügen und sich an die Landschaft und Klimabedingungen der jeweiligen Region anpassen. Bebauungskonzepte, Siedlungs- und Stadtentwicklungsmodelle haben ihre jeweilige Einbettung in das nächstgrößte Ökosystem zu berücksichtigen und ihren Beitrag zur Stabilisierung und Revitalisierung zu leisten. Damit kann zerstörte Natur wieder hergestellt werden.

These 8

Die komplexe Vernetzung natürlicher Systeme muß zum Vorbild und zur planerischen Orientierung der baulichen Umweltgestaltung werden. Einzelmaßnahmen können ihre Wirkung nicht voll entfalten, wenn sie nicht in einem Funktionsverband integriert sind. Aufzubauen ist deshalb eine ökologische Infrastruktur für Stadt und Siedlung, die eine interdisziplinäre Denk- und Handlungsweise voraussetzt.

These 9

Der Alpenraum ist überlastet. Die Wälder sind gefährdet, die Kulturlandschaft ist bedroht. Die Auswüchse des Tourismus und Transitverkehrs überschreiten die Tragfähigkeit dieses empfindlichen Ökosystems. Dies erfordert politische Maßnahmen und stellt besondere Aufgaben für Planen und Bauen dar.

These 10

Bauen in den Alpen ist auch Auseinandersetzung mit einer regionalen Kultur, die sich unter ganz besonderen geographischen, klimatischen, ethnischen Voraussetzungen am Rande kultureller Zentren und als Überlagerung von verschiedenen Kulturen entwickelt hat. Diese kulturelle Vielschichtigkeit darf nicht durch oberflächliches Kopieren und das Verbreiten alpiner Klischees verdrängt werden. Gefordert ist eine lebendige und kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.

These 11

Architektur ist Ausdruck der bewußten Existenz des Menschen. Sie spiegelt seine Erinnerungen, Wünsche, Sehnsüchte, Träume und Ziele bildhaft wieder. Architektur soll aber auch den vollen Stand menschlichen Wissens enthalten. Deshalb müssen die neuen Erkenntnisse ökologischen und gesundheitlichen Bauens in die Gestaltung miteinbezogen werden. Nur so dient die Architektur wieder der vollen Entfaltung und Erweiterung der menschlichen Existenz.

These 12

Die ästhetische Dimension der bebauten Umwelt ist lebensnotwendig. Schönheit kann nicht auf Einzelbereiche beschränkt werden als Gegengewicht zu der vielerorts wuchernden Häßlichkeit. Schönheit erwächst aus der Versöhnung von Natur und Kultur und muß ein Baustein der Zukunft werden.


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