Toblacher Thesen 1992 Gesundheit und ökologischer Wohlstand These 1: Gesundheit von Mensch und Natur sind in Gefahr. Während mehr und mehr Menschen wohlstandskrank, überernährt, gestreßt und beziehungsgestört sind, lebt über eine Milliarde Menschen unterhalb des Existenzminimums. Die Klimakrise, die Zerstörung der Ozonschicht, die chemische Belastung durch ständig neue Synthese-Produkte, die fortschreitende Knappheit an sauberem Wasser sind nur einige der globalen Gefahren. Ein "Fortschritt", der zunehmend unsere Lebensgrundlage zerstört und ein "Wohlstand", der seine Kosten auf andere abwälzt, auf die Natur, auf die Dritte Welt, auf die zukünftige Generationen und somit die Lebenschancen aller verschlechtert, stehen im Widerspruch zur Gesundheit und fordern zu einer ökologischen Wende auf. These 2 Wir haben Luft, Wasser und Boden mit Schadstoffen verseucht. Nitrat und Biozide erreichen immer tiefere Grundwasserschichten. Die Anreicherung schwer abbaubarer Stoffe über Nahrungsketten führt zu Beeinträchtigungen der Gesundheit und zu irreversiblen Schäden in Ökosystemen (zum Beispiel Artensterben). Dadurch werden vor allem Schäden am Immun- und Nervensystem hervorgerufen. Das Krebsrisiko steigt durch Schadstoffe in der Luft (wie Dieselruß, Benzol, Cadmium), im Wasser (wie Chloroform) und im Boden (wie Dioxine, Arsen). Auch wenn Toleranzwerte für Einzelstoffe nicht überschritten werden, können subjektive Befindlichkeitsstörungen auftreten. Grenzwerte können unsere Gesundheit und die Ökosysteme nicht schützen. Sofortiger Verzicht auf toxische Stoffe und die Verminderung von Abfallstoffen sind ein Ausweg aus der bedrohlichen Situation. These 3 Die Zivilisationskrankheiten breiten sich aus: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes, Allergien, Autoimmunerkrankungen, Rheuma und Aids. Ängste und Depressionen nehmen zu. Aggressivität, Gewalt und Verrohung greifen um sich. Unsoziales Verhalten, Drogen- und Alkoholsucht, Medikamentenmißbrauch und psychsomatische Störungen sind die Antworten auf einen Lebensstil, der "immer schneller", "immer mehr" zum obersten Prinzip hat. Die allgemeine immunologische Abwehrkraft ist besorgniserregend belastet. Als neue Herausforderung ist die Menschheit mit Aids konfrontiert, einer weltweiten Epidemie, deren dramatische soziale, ökonomische und politische Konsequenzen völlig unterschätzt werden. These 4 Die vorherrschende Medizin westlicher Prägung ist krank. Sie leidet am krassen Materialismus, der Krankheit vorwiegend als reparaturbedürftigen Defekt ansieht. Krankheiten sind auch unbewußte Hilferufe des Menschen, die entschlüsselt und geheilt werden wollen. Wir brauchen eine Aufwertung sanfter Heilmethoden. Wichtig wäre: Sprechen und Zuhören, Ernstnehmen des Patienten, nicht Abspeisen mit Tabletten, medizinische Technik auf ein menschliches Maß reduzieren. Die Medizin sollte ihre Therapie stärker darauf ausrichten, die tieferliegenden Ursachen von Krankheiten in Zusammenhang von Umwelt, Ökonomie und sozialer Problematik zu begreifen. Sie wird dann den Menschen in seiner Ganzheit annehmen können und seine Eigenverantwortung für Gesundheit stärken. Die medizinische Versorgung muß auch für die ärmeren Länder sichergestellt werden. These 5 Wir brauchen eine präventiv orientierte Gesundheitspolitik. Die Reparaturwerkstatt Gesundheitswesen ist heute völlig überfordert. Die Kostenexplosion ist das Ergebnis eines Gesundheitssystems, das möglichst viele und teure Leistungen honoriert. Darüber hinaus muß das Gesundheitswesen auch die enormen Gesundheitsfolgekosten der Naturzerstörung und die psychologischen Schäden unseres Wohlstandsmodells mittragen. In vielen Industrieländern sind heute die Kosten für die Reparatur der Gesundheit wesentlich höher als die Kosten für Ernährung. Die Abwälzung der Kosten auf Patienten (Selbstbeteiligung) berücksichtigt nicht die umweltbedingten Ursachen der Krankheiten und zerstört die Solidarität unter den Kranken und mit den Gesunden. Präventive Medizin im Sinne einer sozial und ökologisch verantwortlichen Daseins-Vorsorge muß das Ziel sein. These 6 Die weitere Zunahme gesundheitlicher und ökologischer Zerstörungen ist eng verknüpft mit unserer Art zu produzieren und konsumieren. Ein ökologischer Wohlstand wird einen Gewinn an Gesundheit und Lebensqualität bedeuten, keineswegs jedoch Askese. "Langsamer, weniger, besser, schöner" ist die Devise. Ein solcher Wohlstand läßt sich mit unserem Bruttosozialprodukt nicht messen, ist aber gleichwohl volkswirtschaftlich effizienter und entlastet daher die öffentlichen Haushalte. Ökologischer Wohlstand kann eine Verringerung der über den Markt bezogenen Güter und Dienstleistungen, und damit der Arbeitsplätze bedeuten, dafür mehr kulturelle, soziale und Eigenarbeit mit sich bringen. Das Gelingen dieses notwendigen Kurswechsels wird wesentlich davon abhängen, ob darin nicht eine Bedrohung, sondern eine Herausforderung für neue Inhalte, eine neue Verteilung der Arbeit und mehr Lebensqualität gesehen wird. These 7 Die Herausforderung der globalen Naturzerstörung zwingt zu neuen Strukturen in der Arbeits- und Produktionswelt. Gesund arbeiten heißt nicht nur unter gesunden Bedingungen zu arbeiten, mit weniger Streß und Autonomie bei der Gestaltung von Arbeitsinhalt, Arbeitsumfeld und Arbeitszeit. Gesund arbeiten bedeutet auch Produkte und Dienstleistungen herzustellen, die sinnvoll gebraucht werden, langlebig und unschädlich sind, die Natur nicht zerstören, die Dritte Welt nicht ausbeuten und im Rahmen einer Kreislaufwirtschaft weitgehend wiederverwertet werden können. Vorraussetzung für diese Neuorientierung ist auch eine entsprechende Sensibilisierung der Belegschaften sowie eine Verstärkung der betrieblichen Mitbestimmung, wobei sich auch die Gewerkschaften öffnen und ökologisch umorientieren müssen. These 8 Eine gesunde und richtige Ernährung ist entscheidend für das körperliche und seelische Wohlbefinden. Unsere Wohlstandsernährung hat zur Folge: Karies, Arteriosklerose, Altersdiabetes, Bluthochdruck, Darmkrebs. Zu empfehlen sind: weniger Fleisch, Fett, Zucker, Salz und Alkohol, dafür mehr Grundnahrungsmittel wie Brot und Nudeln aus Vollkorngetreide, Kartoffeln und Reis, Milch und Milchprodukte, Gemüse und Obst. Langsamer und weniger essen, dafür besser und schöner sind Bausteine einer neuen Eßkultur. Sie muß alle Generationen einbeziehen und wird in gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten gepflegt. Ein Tisch gedeckt mit Nahrung der jeweiligen Jahreszeit, aus ökologischem und regionalem Anbau sowie aus artgerechter Tierhaltung, ist ein Beitrag zu einer lebensbejahenden, die Natur schonenden und verantwortbaren Eßkultur. Die Dritte Welt muß auch an einem solchen Tisch sitzen. These 9 Im Wohnbereich und im unmittelbaren Lebensbereich nehmen die Gesundheitsgefährdungen zu. Asbest, Formaldehyd und andere Wohngifte stellen ein Gesundheitsrisiko dar, das immer mehr Menschen trifft. Wohnghettos, Zerstörung von Grünflächen, Straßenbauprojekte und Zubetonierung der Siedlungen vermindern die Lebensqualität im Wohn- und Nachbarschaftsbereich, insbesondere für Kinder und ältere Menschen. Die bebaute Umwelt muß ungiftig, wieder sinnlich erfahrbar und in die natürlichen Kreisläufe eingebettet sein und sollte sich an lokalen Traditionen orientieren. Dorf und Stadt müssen für die Menschen zurückgewonnen werden. Der Verlust der Schönheit gehört zu den gravierendsten Schandtaten unserer Zivilisation. Schönheit muß der Baustoff der Zukunft sein. These 10 Getötete, Verletzte, Behinderte, Luftverschmutzung, Lärmstreß, Naturverbrauch, Verschandelung der Landschaft und des Ortsbildes sind die nicht mehr hinnehmbaren Folgen des heutigen Verkehrs. Gesundheit und ökologischer Wohlstand erfordern eine Verkehrspolitik, die mit den Ressourcen haushaltet, die Kosten den Verursachern aufbürdet, und das Recht auf Bewegungsfreiheit der Fußgänger, vor allem unserer Kinder, als Planungsmaßstab nimmt. Sanfte Mobilität mit Bahn und Bus, per Fahrrad und zu Fuß, heißt das Ziel. Der Ausbau und die Vernetzung des öffentlichen Verkehrssystems und die radfahr- und fußgängerfreundliche Umgestaltung der Straßen sind der Weg. Autoverkehr vermeiden, verringern und verlangsamen sind notwendige Bedingungen für die Wiedergewinnung der Nutzungsvielfalt und Erlebnisdichte, für Lebensqualität- für das gute Leben. These 11 Es ist höchste Zeit zum handeln. Trotz einer zunehmenden ökologischen Sensibilisierung der Bevölkerung, schreitet die Naturzerstörung unaufhaltsam fort. Unsere Gesundheit liegt in unseren Händen, aber ohne eine auf die Gesundheit von Mensch und Natur ausgerichtete Umwelt-, Sozial- und Wirtschaftspolitik werden wir immer kränker.Diese Politik kommt nicht von selber, sondern erfordert die Beteiligung aller Gruppen und Organisationen der Gesellschaft und Einsatz und Zivilcourage jedes einzelnen, vor allem auch der Frauen. Dazu müssen wir unsere hohen Ansprüche an Bequemlichkeit, an materielle (Ersatz-) Bedürfnisse überwinden. Notwendig ist eine intensive gesellschaftliche Auseinandersetzung über die Frage: was wollen wir, was brauchen wir wirklich? Der Ausblick ist ein schöneres und besseres Leben, ein immenser immaterieller Gewinn. These 12 Gesundheit und ökologischer Wohlstand sind keine abstrakten Ideale. Sie betreffen unsere Lebensqualität, aber insbesondere auch die unserer Kinder und Enkel. Der ökologische Kurswechsel, den wir einforden, ist die Bedingung für einen neuen Generationsvertrag. Dabei sollten wir uns von den Lebensbedürfnissen und Lebensrechten der Nachgeborenen leiten lassen. Wir bedürfen einer vertieften Sensibilität, in der die Menschen aller Länder, die kommenden Generationen und die Natur geachtet werden, wobei wir unser Grundrecht auf Gesundheit auch einklagen können müssen. Ohne diese Ausweitung unseres Empfindens, Erkennens und Handelns kann es heute keine verantwortete Gesundheit geben. zurück |