Toblacher Thesen 1993

ARBEIT UND ÖKOLOGISCHER WOHLSTAND

These 1

Die Arbeit bestimmt unser Leben sowie die Lebensbedingungen und Überlebenschancen auf dieser Erde. Nichts hat das Gesicht der Erde so tiefgreifend verändert wie die Arbeit. Sie brachte unsere Kulturlandschaften hervor, unsere Städte und die Errungenschaften der Zivilisation. Sie verursachte aber auch, und im Zuge der Industrialisierung immer mehr, enorme ökologische Schäden: Verschmutzung von Wasser, Boden und Luft, Landschaftsverbrauch, Artenvernichtung, bis hin zur globalen Klimaveränderung. In den Industrieländern verbrauchen wir mehr als zehn mal soviel Energie, wie für eine nachhaltige Entwicklung zulässig wäre. Während die einen Arbeit verrichten, die die Natur zerstört, sind die anderen damit beschäftigt, die Schäden zu reparieren.

These 2

Über 20 Millionen Menschen sind zur Zeit erwerbslos in Europa. Die Massenarbeitslosigkeit führt zu Verlust der Identität, menschlichem Elend und birgt soziale Sprengkraft. Die Arbeitsplätze werden zunehmend ersetzt durch Kapitaleinsatz, verbunden mit einem steigenden Energie- und Ressourcenverbrauch, weil Arbeit zu teuer und Naturverbrauch zu billig ist. Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und um sich greifendes Konkurrenzdenken vergiften die soziale Atmosphäre. Die Bedingungen der Arbeitswelt sind häufig nicht menschengerecht und machen Körper und Seele krank. Während Leistungsdruck, Entfremdung und Sinnleere oft die Erwerbsarbeit kennzeichnen, und zu Ersatzbefriedigung durch übersteigerten Konsum führen, fehlen der Eigenarbeit die finanzielle Basis und die gesellschaftliche Anerkennung.

These 3

Der Traum vom immer weiter zunehmenden materiellen Wohlstand ist ausgeträumt: Die Realeinkommen steigen nicht mehr, erstmalig sind nicht nur ärmeren Schichten unserer Gesellschaft von Krise und Arbeitslosigkeit betroffen, und die Einsicht wächst, daß es unseren Kindern in vieler Hinsicht schlechter gehen wird als uns. Die sozialen Sicherungssysteme bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und für das Alter werden immer teurer und stoßen an die Grenze der Finanzierbarkeit. Der Staat wird mit den ökologischen und sozialen Folgekosten unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems nicht mehr fertig.

These 4

Die ökologischen, sozialen und ökonomischen Krisen sind Ausdruck der Krise unseres Wachstumsmodells. Die alten Antworten greifen weniger denn je. Die Hoffnung, Arbeitslosigkeit durch ein Ankurbeln des Wachstums bekämpfen zu können, ist doppelt trügerisch: Wachstum wird keine Arbeitsplätze schaffen, dafür aber die Umweltkrise verschärfen. Jede Zunahme des Bruttosozialprodukts geht mit Umweltvernichtung einher. Wir müssen grundsätzlich neue Fragen stellen und nach neuen Antworten suchen. Wofür arbeiten wir? Warum arbeiten wir so viel und so hart, wenn so viele Menschen ohne Erwerbsarbeit sind? Und was ist das für eine Arbeit, die vielfach nicht glücklich, sondern krank macht und unsere Lebensgrundlagen zerstört? Arbeit ohne Umweltzerstörung ist die Herausforderung. Arbeit und ökologischer Wohlstand das Ziel. Wir brauchen eine neue Kultur der Arbeit.

These 5

Wir streben ein anderes Verhältnis von Arbeit und Leben an. Körperliche und geistige Arbeit sollten ausgewogen und der Rhythmus der Arbeit dem Menschen angepaßt sein. Die Arbeit sollte Sinn machen. Zur Arbeit gehören nicht nur die Erwerbsarbeit, sondern auch die täglichen Aufgaben in Haushalt und Familie, Eigenarbeit und Selbstversorgung und die ehrenamtlichen Tätigkeiten im sozialen, kulturellen und ökologischen Bereich. Sie sind unentbehrlicher Bestandteil unseres Lebens und unserer Gesellschaft und müssen aufgewertet werden. Leben besteht jedoch nicht nur aus Arbeit. Die Kunst der Muße muß neu geschätzt und erlernt werden. Dabei gilt es, die eigene Existenz neu zu entdecken, mit ihren erfüllten und leeren Zeiten, aus denen ein zufrieden gelebtes Leben entsteht. Ein Leben der Muße zu lernen, heißt nachdenken, betrachten, ruhen, spielen lernen, offen und empfänglich zu sein für sich und die Welt.

These 6

Die Verringerung der Stoff- und Energiedurchsätze, die Vermeidung von giftigen Stoffen und von großtechnologischen Risiken sind Ziele einer ökologischen Produktion und Produktgestaltung. Einsparen von Ressourcen und der Einsatz von natürlichen, nachwachsenden Rohstoffen, die Vermeidung von Emissionen und der Ersatz von giftigen Stoffen sind Grundsätze einer umweltverträglichen Produktion. Ökologische Produkte zeichnen sich durch Langlebigkeit und Reparaturfreundlichkeit aus, wir brauchen mehrfach nutzbare Produkte und keine kurzlebigen Wegwerfwaren. Letztlich müssen wir aber bei jedem Produkt fragen, ob es überhaupt sinnvoll ist und sein Zweck nicht auch durch ein anderes Produkt oder eine Dienstleistung umweltfreundlicher erreicht werden kann. Die Bedürfnisse müssen die Produktion bestimmen und nicht die Produktion die Bedürfnisse.

These 7

Wir brauchen eine ökologisch angepaßte Technik, eine Technik, die auf der Partnerschaft mit der Natur beruht und nicht auf ihrer Unterdrückung. Auch ökologische Technik ist effizient, versucht aber diese Effizienz durch klugen Umgang mit der Natur und nicht durch tiefes Eingreifen in die Natur zu erreichen. Der Eingriff in die Struktur der Materie wie bei der Atomtechnik, der synthetischen Chemie und der Gentechnik, ist mit unvorhersehbaren Folgen verbunden und daher nicht zu verantworten. Ökologische Technik fügt sich geschickt in vorhandene Naturkräfte und Naturprozesse ein und setzt auf die kenntnisreiche Nutzung der Vielfalt regional vorhandener natürlicher Stoffe, Strukturen und Organismen. Ökologische Technik ist in einem viel größeren Ausmaß auf die Kenntnis der Natur angewiesen und verbindet in ihren gelungensten Formen die Produktivität des Menschen mit der Produktivität der Natur.

These 8

Wir brauchen den umweltbewußten Verbraucher, die umweltbewußte Verbraucherin, die versuchen, generell weniger zu kaufen, einiges selbst herzustellen und die Eleganz der Einfachheit des "weniger, besser, schöner" neu zu entdecken. Die gegebenen Handlungsspielräume nutzen und möglichst qualitativ hochwertige, lokal erzeugte Produkte auswählen, bedeutet weniger Ressourcenverschwendung und Ausbeutung der Dritten Welt, weniger Verkehrsbelastung und Abfall. Ökologisches Handeln ist heute schwierig, kostet Zeit und Geld und muß daher den Verbrauchern erleichtert werden. Umweltfreundliche Produkte müssen billiger, umweltbelastende teurer werden. Durch Produktkennzeichnung wird die Kaufentscheidung einfacher. Die mögliche Mehrarbeit im Haushalt muß in umweltpolitische Entscheidungen Eingang finden und im Alltag gerecht verteilt werden. Unser Geld stellt ein wichtiges Druckmittel dar, um Einfluß auf Produktion und Wirtschaft auszuüben.

These 9

Die heutige Wirtschaft erobert alle Lebensbereiche und wird vom Zwang zum "Immer mehr" bestimmt. Wollen wir daran etwas ändern, muß der Zugriff des Marktes begrenzt werden, und es bedarf neuer Rahmenbedingungen unseres Wirtschaftens. Die Energie und Rohstoffe müssen endlich verteuert und die Arbeit muß steuerlich entlastet werden. Durch diese ökologische Steuerreform werden Anreize gegeben, Ressourcen zu sparen, lokal zu produzieren, weniger zu transportieren und vermehrt Arbeit statt Maschinen einzusetzen. Mit der Einführung eines garantierten Grundeinkommens können wir darüber hinaus Freiräume schaffen für Eigenarbeit und mithelfen, die konventionelle Erwerbsarbeit gesellschaftlich gerechter zu verteilen. Letztlich werden wir aber den zwang zu immer noch weiterem Wachstum nur dann auflösen, wenn wir auch das Problem der überaus ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen angehen.

These 10

Aktive ökologische Unternehmer sind gefordert. Oft sind es alte Gewohnheiten, überholte Erfolgsrezepte und die Befürchtung ökonomischer Verluste, die umweltverträgliche Produktion und Produkte verhindern. Verbindliche Rahmenregelungen, wie Auflagen und Grenzwerte, sowie eine Veränderung der ökonomischen Anreize durch eine ökologische Steuerreform müssen sicherstellen, daß ein solches Verhalten nicht auf wenige Vorreiter beschränkt bleibt, und daß ökologische Unternehmensführung sich auch ökonomisch lohnt. Ebenso ist der Druck einer kritischen Öffentlichkeit, von Bürgerinitiativen und Umweltverbänden unverzichtbar. Ökologisches Wirtschaften ist kein konjunkturabhängiger Luxusartikel, sondern überlebensnotwendig. Die Natur braucht nicht die Wirtschaft, aber die Wirtschaft eine intakte Natur.

These 11

Arbeit und Leben müssen für den einzelnen Beschäftigten wieder stärker zusammengeführt werden. Die Lernprozesse umweltverträglichen Verhaltens im Alltag sollten Eingang finden in die Arbeitswelt. Die Arbeitnehmer sollten ihre Verantwortung als Produzenten wahrnehmen können, indem sie stärker an der ökologischen Gestaltung der Produktion und Produktpolitik beteiligt werden. Die Politik der Gewerkschaften muß sich unter der Perspektive einer langfristigen Erhaltung der Lebensqualität grundlegend ändern: Weniger Gewicht auf Geldeinkommen und Sicherung der vorhandenen Arbeitsplätze, dafür mehr Arbeitsqualität bei weniger Arbeitszeit und aktive Mitarbeit am ökologischen Strukturwandel. Die Barrieren von Angst und Unsicherheit bei den Beschäftigten können nur überwunden werden, wenn die Umstrukturierung durch überbetriebliche Beratung und regionale Koordination, Zwischenfinanzierung und soziale Absicherung bis hin zu einem garantierten Grundeinkommen unterstützt wird.

These 12

Wir in den Industrieländern sind am Ende eines Weges angelangt, eines Weges, der sich als Sackgasse erwiesen hat. Wir brauchen einen neuen Zukunftsentwurf. "Wie wollen wir in Zukunft leben?" ist die entscheidende Frage. Wollen wir weiter die Folgen unseres Wirtschaftens unseren Kindern, den Schwachen und Armen, der Dritten Welt und der Natur aufbürden? Der Ausstieg aus der Spirale des Wachstums von Einkommen, Konsum und Naturzerstörung ist nur durch Teilen möglich. Es wird kein leichter Weg sein, aber es ist der einzige Weg, der unserer globalen Verantwortung gerecht wird. Dieser Weg eröffnet eine neue Perspektive von Arbeit und ökologischem Wohlstand und birgt neue Chancen. "Langsamer, weniger, besser, schöner" können Leitbilder sein, die der Arbeit ihren eigentlichen Sinn zurückgeben: das gute Leben.


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