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Toblacher Thesen - zum Letzten

Die kleinen praktischen Umwelt-Erfolge und die Schwierigkeiten mit der Zukunft

Von Roman Arens (Toblach)

Nie wieder Toblacher Thesen? Fünfzehn Mal rauchten die Köpfe. Öko-Pragmatiker, die die Leute nicht verschrecken, aber viel verändern wollen, und Öko-Visionäre, die mit Schrecken in den Gliedern die große Wende im vielleicht letzten Moment einfordern, rauften sich jährlich im September im Südtiroler Fremdenverkehrsort Toblach die Haare. Am Ende einigten sie sich immer auf streng komponierte schriftliche Arbeitsergebnisse. "Das Thesenschmieden", so Hartmut Graßl, der Direktor des Weltklimaforschungsprogramms, der am vergangenen Wochenende wieder mit von der Partie war, "das Thesenschmieden ist eine ganz schwierige Kiste."

Jetzt unterzogen sich die Wissenschaftler, Politiker und Verbandsvertreter zum letzten Mal der fruchtbaren Anstrengung. Sie war wieder eingebettet in dreitägige Referate und Streitgespräche unter der heustadlähnlichen Holzbalkendecke des Saales in der Dorfschule. "Ich fange schon an", so bekannte am Ende Hans Glauber, der Erfinder und gute Geist der Toblacher Gespräche, "Entzugserscheinungen zu bekommen, wenn ich an diesen schönen Saal und all die Diskussionen denke."

Glauber, Toblacher von der Herkunft, Umweltberater in Frankfurt und Bozen, hatte dem Umweltforum in seiner Hochpustertaler Heimat eine feste Dramaturgie verordnet. Den jeweils zwölf Thesen am Ende ist eine unwandelbare Form eigen, wiedererkennbar wie bei einer musikalischen Sonate: ein austarierter Dreisatz aus Feststellungen, Erläuterungen und Fazit.

Diese Formbesessenheit des Künstlers und Soziologen Glauber mag zum Erfolg der Thesen beigetragen haben. Jedenfalls arbeiten viele Umweltgruppen, Schulen und Parlamentsfraktionen mit dem knappen Extrakt aus Erkenntnissen, Erfahrungen und Forderungen. Ein Papier, das ungewöhnliche Verbreitung findet. Und wozu das alles? Der Beitrag zur Bewusstseinsbildung ist nicht messbar, die politische Wirkung ist, außer bei einzelnen lokalen Fällen, nicht nachweisbar.

Die Toblacher Gespräche sind am Ende zu ihrem Ursprung zurückgekehrt. Ein Waldstück am Dorfrand hatte vor eineinhalb Jahrzehnten einer großen landwirtschaftlichen Maschinenhalle weichen sollen. Die Protestler dagegen holten den Zukunftsforscher Robert Jungk, den Tourismusforscher Jost Krippendorf, der damals noch einsam den "sanften Tourismus" predigte, und andere Exponenten der Umweltbewegung herbei. Die Idee: Örtliche Probleme und globales Denken sollten konfrontiert werden. Das erwies sich als spannend für die an der Basis und für die Denker aus den Seminaren.

Das Wäldchen gibt es noch, aber kleiner; die Halle wurde auch gebaut, aber viel kleiner als projektiert. Solcher Kompromiss symbolisiert das damals politisch Machbare. Und wenn es vernünftig gewesen wäre, ganz auf die Maschinenhalle zu verzichten, so wäre es jedenfalls nicht durchsetzbar gewesen - mangels entsprechenden Bewusstseins.

Toblach war anfangs nicht glücklich über das Jahrestreffen der Ökologen und der vielen Interessenten aus Ländern des Alpenbogens. Konnten die in der Volksschule ausgetauschten Hiobsbotschaften über Luft, Wasser, Verkehr, Gesundheit oder Landwirtschaft nicht schädlich auf den örtlichen Tourismus, immerhin Haupteinnahmequelle, zurückfallen? Mit den Jahren, in denen draußen die Anerkennung für die Toblacher Gespräche wuchs, schwand im Dorf das Misstrauen.

Es kam ein neuer Bürgermeister ins Amt, der das Umweltforum förderte, aktiv begleitete und jetzt beim letzten Mal mit auf dem Podium saß. Auch für seine Gemeinde sei, stellte Bürgermeister Bernhard Mair fest, umweltorientiertes Handeln die Herausforderung der nächsten Jahrzehnte, was "keineswegs immer auf Verständnis und Unterstützung seitens der Bevölkerung" stoße. Um zum Erfolg zu kommen, sei "möglichst viel Einsehbarkeit und Konsens notwendig", fand Mair.

Die Tagungsteilnehmer, darunter wie in Anfangszeiten wieder viele Südtiroler, konnten ein Toblacher Öko-Prunkstück besichtigen: das mehrfach prämierte Biomasse-Heizwerk, aus dem drei Viertel des Ortes Fernwärme beziehen und an das demnächst der Nachbarort Innichen angeschlossen wird. Mit dieser Fernheizung werden gegenüber früher zwanzig Prozent an Energie eingespart und 53 Prozent Schadstoffausstoß vermieden. Bei den Toblacher Gesprächen vor Jahren hatte es einen wesentlichen Anschub für diese Anlage gegeben.

So schließt sich der lange Zyklus ziemlich praktisch. Es gab Erfahrungsaustausch von Projekten aus der Biolandwirtschaft im norditalienischen Veneto, der Energiepolitik in der "solaren Hauptstadt Deutschlands" Freiburg, der Verkehrsbeschränkung in Vorarlberg und der ursprünglich schweizerischen Idee des Car Sharing, sich zu mehreren ein Auto zu teilen.

Der deutsch-französische Europa-Politiker Daniel Cohn-Bendit, übrigens populär in Italien, outete sich als alter Südtirol-Freund. Mit dieser Voraussetzung nutzte er seinen Auftritt für eine Standpauke. Er rieb dem blühenden Land unter dem Brenner hin, dass es dabei sei, eine Chance zu verpassen: "die Chance, sich bewusst zu werden, wie produktiv eine Grenzsituation und Durchgangsregion sein kann". Dabei könnte Südtirol das große europäische Laboratorium für Multikulturalität werden. Cohn-Bendit schrieb der Region eine Brückenfunktion zu.

Genau diese Funktion hat immerhin Toblach auf seine Weise ausgeübt. Es wurde zur Vermittlungsstelle für Umwelt-Know-how, das in den deutsch-sprachigen Länder bis heute einen erheblichen Vorsprung vor dem auf der Apennin-Halbinsel hat. In den vergangenen Jahren kamen immer mehr Italiener zur Diskussion in den Ort mit dem Blick auf die Dolomiten-Gipfel der Drei Zinnen. Die Brücke funktionierte zunehmend besser.

Die Thesen 1999, wie sonst abgeleitet aus den Berichten und Diskussionen der aktuellen Tagung, tragen die sehr ehrgeizige Überschrift "Neueinstieg ins 21. Jahrhundert". Aus der konkreten Orientierung dieses Jahres ein solches Zukunftsmanifest zu destillieren, erwies sich als schwieriges Unterfangen. Kritische Bereiche wie Arbeit oder ökologisches Wirtschaften, in früheren Tagungen und Papieren ausführlich abgehandelt, kamen jetzt zwangsläufig zu kurz. Sie wurden von den Regeln der Toblacher Dramaturgie außen vor gehalten.

"Wie wollen, wie können wir im nächsten Jahrhundert leben? Welchen Wohlstand wollen wir, welcher Wohlstand ist verträglich mit den Mitmenschen und der Natur? Ein einfaches ,Weiter so' geht nicht mehr", heißt es eingangs der neuen Thesen. Eine Art olympisches Motto für eine lebenswerte Zukunft war schon früher entwickelt worden: "langsamer, weniger, besser, schöner".

Nie wieder Toblacher Thesen? Der junge Musiker Arnaldo De Felice hat ein Auftragswerk "Le linee della vita" (Die Lebenslinien) komponiert, das im "Kulturzentrum Grand Hotel Toblach" aufgeführt wurde. Der Musikabend in dem Zentrum, das in einem alten k.u.k.-Hotel eingerichtet wird, war Abschied und auch ein Anfang. Denn hier könnte künftig eine Art Umwelt-Akademie tagen - in neuen, noch zu entwickelnden Formen.

[mit freundlicher Genehmigung der FR]

[ dokument info ]
Copyright © Frankfurter Rundschau 1999
Dokument erstellt am 12.09.1999 um 20.45 Uhr
Erscheinungsdatum 13.09.1999

 

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